N. Dinçkal u.a. (Hrsg.): Kriegsgeschädigte und europäische Nachkriegsgesellschaften im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Kriegsgeschädigte und europäische Nachkriegsgesellschaften im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Dinçkal, Noyan; Schleiermacher, Sabine
Reihe
Krieg in der Geschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 280 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Ralf Vollmuth, Abteilung Forschung, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam

Die Geschichte von Veteranen und Kriegsversehrten stellte in der deutschen Militär-, Sozial- und Medizingeschichtsschreibung lange Zeit ein wenig beachtetes Themenfeld dar. Erst in den letzten Jahren gerät dieser Bereich wieder in den Fokus, wohl nicht zuletzt aufgrund des Gedenkzyklus „100 Jahre Erster Weltkrieg“, der in den Jahren 2014 bis 2018 eine wahre Flut an militärhistorischen, militärmedizinhistorischen und sozialgeschichtlichen Publikationen zur Kriegsgesellschaft während des Krieges und in der Nachkriegszeit hervorbrachte. Auch die Veteranendebatte der Bundeswehr und mannigfaltige Diskussionen um das Schicksal, die gesellschaftliche Wahrnehmung und die Versorgung (meist psychisch) versehrter Bundeswehrsoldaten dürften in dieser Hinsicht nicht zu vernachlässigen sein. Gleichwohl sind die Forschungen auf diesem Gebiet derzeit noch überschaubar. Umso verdienstvoller ist der von Noyan Dinçkal und Sabine Schleiermacher herausgegebene Sammelband „Kriegsgeschädigte und europäische Nachkriegsgesellschaften im 20. Jahrhundert“, der auf dem im Oktober 2019 an der Universität Siegen durchgeführten Workshop „Kriegsversehrungen im 20. Jahrhundert in europäischer Perspektive“ basiert und in der renommierten Reihe „Krieg in der Geschichte“ erschien.

Zu Beginn des Bandes führen Noyan Dinçkal und Sabine Schleiermacher in ihrem Beitrag „Kriegsgeschädigte in europäischen Kriegsfolgengesellschaften im 20. Jahrhundert: Sozialpolitik, Rehabilitation und Repräsentation“ facettenreich in die Gesamtthematik ein. Sie stellen auch die einzelnen Beiträge des in drei Teile gegliederten Buches ebenso kurz wie prägnant vor.

Der erste Teil des Bandes „Sozialpolitik und Symbolpolitik“ fasst drei Beiträge zusammen: Marisa De Picker untersucht „Die physischen Lasten des Kriegs. Die Bildung eines neuen Wohlfahrtsystems für kriegsversehrte Veteranen und Zivilisten in Belgien, 1918–1928“. Sie bewegt sich also noch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die aufgrund der hohen Zahl an kriegsversehrten Soldaten und zivilen Kriegsopfern praktisch alle Nationen, die an diesem Krieg teilgenommen hatten, vor große Herausforderungen stellte. Mit ihrer Darstellung der sozialpolitischen Debatten und administrativen Maßnahmen für die Versorgung sowohl der betroffenen Soldaten als auch der Zivilisten betritt sie für die Forschung in Belgien weitgehend Neuland.

Der folgende Artikel „Die staatliche Versorgung der Kriegsinvaliden in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg – Kontrolle und Fürsorge“ von Beate Fieseler nimmt die Kriegsinvalidenfürsorge während des Zweiten Weltkrieges und nach Ende des Krieges insbesondere in der Russischen Sowjetrepublik (RSFRS) in den Blick. Eingebettet in die Geschichte der Invalidenversorgung seit dem Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg zeigt die Verfasserin die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf und verdeutlicht, dass insbesondere in der Zeit des Stalinismus die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess – auch mit repressiven Maßnahmen – im Vordergrund stand.

Abgerundet wird der erste Teil des Bandes durch einen Beitrag der Mitherausgeberin Sabine Schleiermacher zum Thema „Sozialpolitische Strategien im Umgang mit Kriegsgeschädigten. Bundesrepublik und DDR in vergleichender Perspektive“. Vor dem gleichen historischen Hintergrund der Kriegsbeschädigtenfürsorge in Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges sowie der bei den Westalliierten und der Sowjetischen Militäradministration teils divergierenden Entwicklungen während der Besatzungszeit bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten beleuchtet Sabine Schleiermacher den unterschiedlichen Umgang bei der Versorgung der Kriegsbeschädigten in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Beeinflusst wird dies auch von der Opfer-Täter-Diskussion bei Soldaten der Wehrmacht.

Der zweite Teil des Bandes „Rehabilitation und Integration“ umfasst vier Beiträge: Zunächst beleuchtet Noyan Dinçkal in seinem Aufsatz „‚Life is not just about enjoyment and sleeping …‘. Disabled Veterans, Prosthetics and Performance in the Early Days of the German Federal Republic“ die Diskurse und Bemühungen in den 1950er- und 1960er-Jahren, die durch den Verlust von Körperteilen behinderten Kriegsveteranen mithilfe von Prothesen medizinisch zu rehabilitieren und gesellschaftlich zu integrieren. Auch hier zeigt sich, wie sehr die gesellschaftliche Teilhabe auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess und die Erwerbsfähigkeit reduziert wurde.

Sehr konkret werden die Schicksale von beidseitig hand- beziehungsweise armamputierten Kriegsbeschädigten in dem Beitrag von Christine Wolters und Karsten Wilke „Die Integration Kriegsbeschädigter in Niedersachsen 1945–1970. Gesetzliche Regelungen, Organisation und Praxis der Versorgung am Beispiel der Ohnhänder“ verdeutlicht und kontextualisiert. Die facettenreiche Studie bietet Teilergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Behinderung als gesellschaftliche Herausforderung. Lebensverläufe und Erwerbsbiographien von gliedmaßenamputierten Kriegsversehrten des Zweiten Weltkriegs in der frühen Bundesrepublik“.

Einen Blick auf die italienische Nachkriegsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vermittelt Domenica La Banca. In ihrem Beitrag „Prevention and Therapeutic Intervention. The Psycho-Pedagogical Medical Centre in Post-war Italy“ fokussiert sie aber nicht auf die versehrten Soldaten. Vielmehr beschäftigt sie sich mit zivilen Kriegsbeschädigten, genauer der interdisziplinären psychosozialen beziehungsweise psychopädagogischen Betreuung traumatisierter Kinder, also einer besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppe, die vielfältigen Gewalterfahrungen, traumatisierenden Erlebnissen und ungeordneten Lebensbedingungen ausgesetzt war.

Ana Carden-Coyne widmet sich mit ihrem Aufsatz „Decolonising War Disability: The Case of Disabled Indian Veterans after the First World War“ einem Thema, das bisher in der historischen Forschung nur wenig Beachtung gefunden hat: Sie behandelt das Schicksal versehrter oder chronisch kranker indischer Veteranen im Ersten Weltkrieg, die nach der Entlassung aus den britischen Krankenhäusern zurück in ihre Heimat kamen und letztlich auf das Wohlwollen und die Gunst der britischen Kolonialmacht angewiesen waren.

Im dritten Teil „Mediale Repräsentation und Erinnerungskultur“ finden sich drei Beiträge, die sich diesem Thema in sehr unterschiedlicher Weise nähern: Sebastian Merkel berichtet über die „Einflussnahme und Propaganda durch Lazarett-Zeitungen im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Marinelazaretts Hamburg-Veddel“ und nutzt damit eine Quellenart, die bisher kaum Aufmerksamkeit fand, gleichwohl (wie der Verfasser ausführt) weit verbreitet gewesen und auch heute noch gut verfügbar ist. Wie er an dem von ihm gewählten Beispiel zeigt, verfolgten die Lazarettzeitungen sehr wohl auch den propagandistischen Zweck, die Patienten im Sinne der Kriegsmoral und der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt zu beeinflussen. Allerdings war ihnen in dieser Hinsicht nur mäßiger Erfolg beschieden.

Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags „Kriegsversehrte und ihre Repräsentation in der Wochenschau ‚Welt im Film‘ und Spielfilmen, 1945–1949“ von Uta Fenske stehen wiederum die Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie nutzt die „Doppelperspektive“ (S. 225) der eher dokumentarischen Wochenschauen und der fiktionalen Spielfilme, um sich dem Bild der Kriegsversehrten und der traumatisierten Kriegsheimkehrer aus ebendiesen zwei Richtungen zu nähern. Damit arbeitet sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Betrachtungs- und Darstellungsweise wie auch hinsichtlich der intendierten Aussagen beider Genres heraus.

Im letzten Aufsatz des Sammelbandes „War Injuries and Combat Trauma on Stage: Operas between Remembrance and Reconciliation (Hartmann, Britten, Lens/Cave)“ nimmt Jonas Nesselhauf die Opern „Des Simplicius Simplicissimus Jugend“ von Karl Amadeus Hartmann (1936/1948) und „Shell Shock. A Requiem of War“ von Nicholas Lens und Nick Cave (2014) sowie das „War Requiem“ von Benjamin Britten (1962) in den Blick. In diesen Werken werden die Traumata, Schrecken und Erfahrungen von Kriegen künstlerisch verarbeitet.

In der Gesamtschau muss angemerkt werden, dass der Sammelband nicht darauf angelegt ist, die Thematik systematisch und umfassend zu erschließen. Hierfür sind einerseits die einzelnen Beiträge zu speziell und disparat, während der Themenbereich der Kriegsgeschädigten in ihrem gesellschaftlichen und sozialen Kontext – und das auch noch im europäischen Vergleich – eine schier unübersehbare Fülle an Forschungsthemen und -desideraten bietet. Dies tut dem Buch jedoch keinen Abbruch – der vorliegende Sammelband beleuchtet das Gesamtthema „Kriegsgeschädigte und europäische Nachkriegsgesellschaften im 20. Jahrhundert“ gehaltvoll aus unterschiedlichsten inhaltlichen wie auch nationalen Perspektiven. Es wird deutlich, dass hier ein Forschungsfeld existiert, das stärker als bisher in den Fokus der militär-, sozial- und medizinhistorischen Forschung gerückt werden sollte und methodisch wie thematisch viele wissenschaftliche Ansätze bietet.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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